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A. Wolfsohn  & Roy Hart objekt1
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Der Ansatz der Stimmentwicklung und -erkundung, der auf Roy Hart und dessen Lehrer Alfred Wolfsohn zurückgeht und auf den wir uns in unserer Arbeit beziehen, stellt den historisch ersten Versuch dar, die menschliche Stimme aus den Fesseln der Kategorien richtig/falsch und schön/häßlich zu befreien und der ganzen Stimme den Raum zu geben, frei erklingen zu können.

Ausführlich dargelegt habe ich diesen Ansatz in meinem Buch "Wege zur Stimme"

Wege zur Stimme. Reisen ins menschliche Stimmfeld, Köln 2008.

Hier können Sie ein ein paar Thesen nachlesen, die unser Verständnis der menschlichen Stimme wiedergeben.

Wir benutzen in unserem Leben in der Regel nur einen sehr kleinen Teil dessen, was in unserer Stimme an Möglichkeiten angelegt ist.

Jede menschliche Stimme verfügt über einen viel größeren Umfang der Tonhöhe und des Klangfarbenrepertoires, als uns gemeinhin bewußt ist. Alfred Wolfsohn sprach in diesem Zusammenhang von der 8-Oktaven-Stimme. Das ist ein Begriff, der in unserern Ohren wohl etwas zu olymisch klingt. Wieviele Oktaven ein weite Stimme umfaßt, ist eine nachrangige Frage. Wichtig ist uns die Suche nach dern Möglichkeiten der Stimme, die sich in Stimmumfang und in einer Vielfalt der Klangfarben ausdrückt.

Wenn wir alle im Prinzip über eine so weite, große Stimme verfügen, warum, fragt man sich dann, sind wir nicht alle spontan in der Lage, unsere Stimme mit all ihren Möglichkeiten zu benutzen? Die Antwort lautet: Kultur! Die Beschränkung der eigenen Stimme beginnt spätestens im Kindesalter mit dem Erlernen der Muttersprache, für die man nur ein gewisses Klangspektrum benötigt, auf das die jeweilige Sprache den Stimmgebrauch für die Zukunft festlegt.

Das sprachlich-soziale Ambiente bestimmt, welche Stimmen in einer Kultur erwünscht sind, d.h. schön klingen, und welche nicht. Wir wissen heute, daß die verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Vorstellungen von der schönen und passenden Stimme pflegen. Und damit übrigens auch von dem, was denn ein authentischer stimmlicher Ausdruck, also Identität der Stimme bedeutet.

Eng verbunden mit den kulturellen Beschränkungen sind die psychischen Beschränkungen der eigenen Stimme. Im allgemeinen Rahmen der kulturellen Stimmvorstellungen gibt es immer noch Platz für individuelle Schwierigkeiten und Einengungen.

Die Stimmentwicklung, wie wir sie in der Tradition von A. Wolfsohn und Roy betreiben, hat zum Ziel, die ganze Stimme mit all ihren Möglichkeiten kennenzulernen. Dazu gehört es dann auch, sich die Beschränkungen anzuhören, mit ihnen zu arbeiten und sie eventuell zu überwinden.

Mit den Beschränkungen arbeiten! Was soll damit gemeint sein? Damit kommen wir zu der vielleicht wichtigsten These unseres Stimm-verständnisses: Die Stimme ist ein Phänomen mit Bedeutsamkeit. In den Worten des Philosophen Aristoteles: Stimme ist ein Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen. Jeder Stimmklang verweist mit seinen spezifischen Qualitäten auf den Menschen, der ihn erzeugt hat. Der Begriff der Bedeutsamkeit steht für die Beobachtung, daß die Stimme immer auf mehr verweist als auf sich selbst, auf den Körper, die Stimmung, die eigene Geschichte, die Gefühle, auf Assoziationen usw.

Jedenfalls heißt das für unsere Art der Stimmentwicklung: Die Beschränkungen, die Merkwürdigkeiten, die sogenannten falschen Töne interessieren uns ganz besonders. In diesen Klängen stecken die spannenden Geschichten und oft genug die Ansätze zu der eigenen Stimme.

Man könnte annehmen, dieses Interesse für die Beschränkungen der Stimme würde dem Ziel ihrer Erweiterung zur ganzen Stimme widersprechen. Wie soll man je zu allen Möglichkeiten der Stimme vordringen, wenn man sich dauernd mit dem beschäftigt wo es hakt? Doch die Suche nach den Bedeutungen eines Stimmklangs soll in der praktischen Arbeit gerade darin münden, daß man erstens in der Lage ist, alle Klänge, auch einen sogenannten falschen, bewußt zu erzeugen - denn oft genug geschehen einem diese Klänge, ohne daß man sie machen wollte – und zweitens, dann auch in der Lage ist, einen Klang in einen anderen zu transformieren.

Im Unterschied zu den üblichen Ansätzen der Stimmentwicklung machen wir also keinen Wertunterschied zwischen den "guten" und den schlechten, bösen, schwachen, falschen Stimmklängen. Uns geht es nicht um die Kultivierung der richtigen Gesangsstimme, sondern um die Erforschung der ganzen Stimme mit den Bedeutungen ihrer unzähligen Stimmklänge. Und dann für diejenigen, die weiter gehen wollen, um den Einsatz dieser Klänge in einem künstlerischen Rahmen.

Die Erforschung der Bedeutsamkeit der menschenmöglichen Stimmklänge ist ein sozialer Prozeß, der nur in ganz geringem Maße im stillen Kämmerlein vonstatten gehen kann. Man braucht Menschen die zuhören, die mittönen, die ihre Kommentare zu Stimmklängen abgeben.